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War Sokrates ein Yogi?

Heute mal einige sehr abstrakte, sehr metaphysische Gedanken – mal dem Spirituellen etwas freien Lauf lassen 🙂

Eine der größten Fragen, die mich philosophie-historisch beschäftigt ist diejenige, ob sich eine Einheit zwischen der antiken (westlichen) Philosophie Platons und der indischen Philosophie des Yoga herstellen lässt. Beide Wege sprechen meine Intuition an…

Der Yogi als der gerechte Mensch

Sokrates‘ Leben zeigt, wie die Glückseligkeit dadurch zu erreichen werden kann, dass der Mensch alle seine Seelenteile in Einklang bringt: Alle Wünsche und sich widersprechenden Bestrebungen müssen in Harmonie zueinander gebracht werden, was nur gelingen kann, wenn die erkennende Vernunft herrscht.

Die drei Seelenteile im gerechten Staat/Menschen
Die drei Seelenteile im gerechten Staat/Menschen

Die Vernunft (1. Seelenteil) ist der erkennende Teil im Menschen, der das absolute Maß des Guten zu erkennen fähig ist. Gemäß dieses Maßstabs können alle anderen inneren Begehrungen (3. Seelenteil) angeleitet werden, wobei die Kraft des Willens (2. Seelenteil) der erkennenden Vernunft zu Seite steht.

Der so lebende Mensch hat den inneren Kampf überwunden und kann ein gutes Leben führen. Er ist der „gerechte Mensch“, weil er gerecht zu sich selbst ist, indem kein Teil des selbst verleugnet oder versklavt wird – der Mensch lebt in innerer Freundschaft mit sich selbst.

Ein Mensch, der passiv lebt und unreflektiert allen seinen Trieben folgt, wird zu einem getriebenen, nimmersatten Menschen: Sei es das Streben nach Macht über andere, nach weltlichem Reichtum, nach sexueller Befriedigung. Alle diese Dinge – sobald sie erfüllt sind – schreien nach mehr. So wird man zum Menschen der Pleonexie, des „Mehrhabenwollens“. Eine Existenz, die entweder zu einer verzweifelten Zermürbtheit führt, wenn jedes Erreichen einer neuen Stufe des Besitzes von Macht, Reichtum, sexueller Befriedigung etc. mich ewig-dürstend zurücklässt, oder zur Depression, wenn ich auf die Unmöglichkeit gestoßen werde, zu erreichen, was mir mein Gott war – das Scheitern also der äußeren Ziele. Der so lebende Mensch ist der ungerechte Mensch, da er nach etwas strebt, was nicht „gut“ für ihn ist.

Mensch, regiert von der unterscheidungsfähigen Seele
Mensch, regiert von der unterscheidungsfähigen Seele

Soviel zu Platon, was aber bedeutet „Yoga“? Yoga heißt „Einheit“. Einheit von was? Wie bei Platon: Einheit aller sich widerstreitender Kräfte im Menschen; auch hier steht die richtige Lebensführung und das Streben nach der Verwirklichung der eigenen Natur im Vordergrund.

Besonders faszinierend ist, dass der indische Philosoph Mukunda Lal Ghosh (Yogananda) ebenfalls die Metapher eines Staates mit einem Herrschaftssytem nutzt, um den Zustand der Verwirklichung des Menschen darzustellen.

Heute wird die körperliche Komponente des Yoga überhöht: man praktiziert „Power-Yoga“, „Bussiness-Yoga“, „Fittness-Yoga“ etc… Yoga wird zu einem „Lifestyle“, der mit seiner Stressreduktion ein besseres Funktionieren im Job oder eine Steigerung der Gesundheit zum Ziel hat.

In der ursprünglichen Idee des (körperlichen) Yoga war aber nicht die Gesundheit das Ziel, oder das Funktionieren im Job. Vielmehr war dies nur die Vorbereitung und die Grundlage für eine geistige/seelische Entwicklung, die in der Meditation vorangetrieben werden soll – ein kranker Körper ist keine gute Grundlage dafür. Der Körper ist damit aber stets ein Mittel, kein Zweck.

Erleuchtung durch die Überwindung des Dualismus

Die Gleichnisse Platons (Sonnengleichnis, Liniengleichnis, Höhlengleichnis) zeigen den Erkenntnisweg, den der Philosoph zurückzulegen hat, hin zur höchsten Erkenntnis: der Idee des Guten.

Die Yogaphilosophie spricht von einem Dualismus, in welchem sich der Mensch befindet, einer Täuschung seines Bewusstseins (Sanskrit: माया māyā = Täuschung/Illusion). Es ist die Täuschung darüber, dass wir ein begrenztes Wesen sind, das leidet. Diese Erfahrung lässt uns die Welt einteilen in Gut und Böse, in Freude und Leiden. Die angestrebte „Erleuchtung“ bedeutet, dass man diese dualistische Einteilung der Welt erkenntnismäßig überwindet: man erkennt, dass das Gute das einzige Prinzip der Welt ist. Das Leiden, das Schlechte, das Böse in der Welt liegt ihr nicht schon zugrunde, sondern liegt nur in der unvollkommenen Erkenntnis der Welt, also in unserer Selbsttäuschung, die jedoch überwindbar ist – durch Meditation. Überwindet man die Täuschung, überwindet man auch jedes Leiden: Körper, Geist, Psyche, Seele etc. können noch so starke äußere Peinigung erfahren, der bewusste Yogi wird es spüren, ohne darunter zu leiden.

Wie beschreibt Platon seine Erkenntnis des Guten? Im Symposion gibt Diotima, die Lehrerin des Sokrates, einen kleinen Einblick in diese Erfahrung: Der Suchende, der der letzten Erkenntnis nahe kommt wird…

„…plötzlich ein Schönes von wunderbarer Art erblicken, eben jenes, Sokrates, dessentwegen alle früheren Bemühungen unternommen wurden, welches zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht, weder zunimmt noch abnimmt, ferner auch nicht auf der einen Seite schön, auf der anderen hässlich ist, und nicht bald schön, bald wieder nicht, auch nicht in dieser Beziehung schön, in jener hässlich, noch auch hier schön, dort hässlich, so dass es für die einen schön, für die anderen aber hässlich wäre. Auch wird sich ihm dies Schöne nicht als ein Gesicht zeigen oder als Hände oder als irgendetwas anderes, woran der Körper Anteil hat, noch auch als irgendeine Rede oder Wissenschaft und nicht als etwas, das an irgendeinem anderen ist, in einem Lebewesen oder auf der Erde oder am Himmel oder sonst an irgend etwas anderem, sondern an sich und für sich und in sich ewig in einer Gestalt.“

— Platon: Symposion, Rede der Diotima (210e)

In dem Zitat wird ein Gedanke immer wieder wiederholt, stets in etwas verschiedener Form: der Gedanke, dass die dualistische Sichtweise der Welt überwunden werden kann, indem man ein Schönes erblickt, das keine Kehrseite bereithält. Ein Absolutes, wie auch die Einheit des Yoga.

Nicht-intellektualistischer Erkenntnisweg

Bei alledem geht Sokrates/Platon einen selbst für die heutige westliche Philosophie sehr nicht-intellektuellen Erkenntnisweg: Erkenntnis kann nicht auswendig gelernt werden, sie ist kein einfaches Wissen, das man studieren kann, keine Lehre, die man einfach nachahmen kann.

Hier tun sich mir aber die größten Zweifel auf, was die Gemeinsamkeit der Yoga-Philosophie und der platonischen Philosophie angeht. Zwar ist Platon kein Intellektualist und die letzte Erkenntnis beruht nicht auf Lehre und Sprache, dennoch wird der Dialog, die Sprache, die Logik aber als Mittel genutzt, um zur nicht-sprachlichen Erkenntnis zu gelangen.

Die Methode des Yoga ist dagegen eine der unmittelbar schauenden Erfahrung durch den kontemplativen Zustand der Meditation. Bestimmte Techniken (die selbstverständlich auch auf einer Logik basieren müssen) können durch längere Praxis den Geist verändern, das Bewusstsein in der Welt verändern, so den Dualismus überwinden und zur Erkenntnis der Einheit, des Absoluten gelangen. Zwar wird das Studium von Schriften nahegelegt und auch in der Mathematik hat die indische Kultur beeindruckendes geleistet, dennoch ist der Schwerpunkt verschieden.

Ich bin unsicher, ob der Yoga-Weg aus der platonischen Perspektive als fehlgeleitete Mystik zu betrachten wäre, oder ob er sich nur graduell unterscheidet.

Der Anfang: Erfahrung des Mangels

Was ist der Anfang allen Suchens in beiden Philosophien? Es ist die Erkenntnis, dass etwas fehlt. Ich suche erst, wenn ich spüre, dass es mir an etwas mangelt. Der gefährlichste Zustand ist wohl der, bei dem der Mensch einem falschen Ziel so überzeugt nachläuft, dass das Bewusstsein für die Falschheit erst kommt, wenn er mit vollem Tempo gegen die Wand läuft. Dies äußert sich oftmals in allen Formen von Lebenskrisen, die heute omnipräsent sind: Depression, Burn-Out (wie oben bereits beschrieben)…

Yogananda, als Verterter der Yoga-Philosophie, schreibt dazu:

„Die meisten Menschen ahnen gar nicht, welche Folgen sich ergeben, wenn sie unter dem Einfluss schlechter Gewohnheiten handeln – bis sie dann plötzlich unter unerträglichen körperlichen Schmerzen oder herzzerbrechendem Kummer leiden. Schmerz und Leid zwingen den Menschen – leider viel zu spät – dazu, nach der Ursache seiner gegenwärtigen Lage zu forschen.“

— Yogananda: Die Bhagavad Gita (Kommentar), S. 37

Selbst Nietzsche, den man in solch metaphysischen Gefilden kaum erwarten würde, drückt mit seiner gewohnt heftigen Sprache immer wieder den Gedanken aus, dass die Erkenntnis des eigenen Mangels Voraussetzung für jede Weiterentwicklung ist:

„Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.“

— Nietzsche: Zarathustra, Vorrede, 5

Die Selbstverachtung heißt hier, den Ist-Zustand noch nicht als den letzten und höchsten zu begreifen, wenn er es nicht tatsächlich ist. Der letzte Mensch ist der, der in der Mittelmäßigkeit verharrt, bis ihm der Stillstand erstickt.

Wir sollten wohl nicht erst nach dem wahrhaft gutem Leben zu suchen beginnen, wenn wir zerbrochen am Boden liegen, sondern –  durch stetige Reflexion – so früh wie möglich und mit den besten Startbedingungen auf die Suche gehen.

Phil Eidos