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Gefangen im Selbst (Reflexionen zur Depression)

Sumpf_1Der Zustand der Depression ist vermutlich eines der schrecklichsten Dinge, die ein Mensch erleben kann. Er spielt eine zunehmende Rolle für die Gegenwart und sollte daher eine größere (auch philosophische) Beachtung finden.

Ich will beginnen, mich diesem Zustand in denkender (systematischer) und fühlender Betrachtung anzunähern, heute zunächst auf die aphoristisch-fühlende Weise.

Das Lied „Fade to Black“ von Metallica beschreibt den inneren Zustand eines Menschen, der in Depression versunken ist. Ich werde eine sinngemäße Übersetzung des Originaltextes vornehmen und dazu einige Gedanken zur Depression äußern. Ein gelungenes akustisches Cover des Stücks findet sich bei YouTube.

Leben zeichnet sich dadurch aus, dass es sich intentional auf etwas ausrichtet, dass es ein „Strebendes“ ist. Wie Aristoteles im Text Über die Seele darstellt, ist das erste Merkmal von Leben das „Begehren“; dies findet sich bereits bei der Pflanze, die sich begehend der Sonne zuwendet. Bei Tieren kommen dann noch die „Bewegung“ und die „Wahrnehmung“ als Merkmale unserer Lebendigkeit hinzu.

Besonders am Menschen ist nun, dass dieser das bewusste Anstreben eines Idee des glücklichen Lebens zur Notwendigkeit hat, weil ihm kein festgelegter Instinktapparat mehr sagt, wie genau er sein Leben führen soll. Mit diesem Zwang zur Freiheit muss er irgendwie umgehen.

Der Tod ist das Ende des Strebens. Wo nun befindet sich dann ein Mensch, der zwar noch lebt, jedoch gleichzeitig nicht mehr in der Lage ist, sich auf irgendetwas auszurichten, irgendetwas außerhalb seiner Selbst anzustreben, der völlig in sich selbst feststeckt, in einem ewig wiederkehrenden Kreis elender Gedanken? Der also lebt, obwohl im die entscheidende Komponente dessen, was Leben ausmacht, abhanden gekommen ist.

Ich glaube das dieses Dasein in einer Zwischenwelt von Leben und Tod die Depression ist. Der so in der Depression gefangene Mensch kann am ehesten als „untot“ bezeichnet werden: Zu lebendig, um zu sterben und zu tot, um zu leben – Gefangen im Selbst.1

Das Leben verblasst, es ist bald weg
Immer weiter, Tag für Tag
Eine Seele die in sich selbst feststeckt
Nichts zählt mehr, niemand ist da.

Der depressive Mensch ist „weltlos“: Ihm fehlt die Fähigkeit und die Kraft, sich „Welt“ zuzuwenden und damit auch die Fähigkeit, sich auf andere Menschen auszurichten, was ihn zunehmend beziehungsunfähig macht. Die fehlende Kraft, anderen etwas zu geben, kann vom Umfeld schnell als ein selbstbezogenes Verhalten gedeutet werden.

Verloren ist mein Wille zu leben
Bin unfähig der Welt noch etwas zu geben
Das Dasein hält mir nichts mehr bereit
Ich wünsche ein Ende, das mich befreit

Die schenkende Liebe setzt die Fülle voraus. Wer leer ist, kann nicht geben. Der Gedanke, dem Leben ein Ende zu setzen, ergibt sich als logische Konsequenz aus dem während der Depression erlebten Zustand tiefsten Elends.

Dinge sind nicht mehr was sie einst waren
Ich vermisse etwas in mir – nur Qual
Leblose Stille, das ist nicht real
Ich kann diese Hölle nicht weiter ertragen

Woher genau die sich ewig im Kreis drehenden negativen Gedanken kommen, vermag ich noch nicht genau zu sagen. Jedoch scheint oft ein gewisser Selbsthass damit einherzugehen und der Gedanke, das auch sonst in der Welt niemand einen leiden kann.

Es wächst in mir die Einsamkeit
Erstickt mich, kenne nur noch Leid
Die wachsende Dunkelheit beginnt zu erwachen
Ich hatte ein Selbst, es hat mich verlassen

Niemand außer mir selbst kann mich erretten doch ist es zu spät
Mir fehlt der Gedanke es überhaupt zu versuchen
Die Tage sind leer, als würden sie gar nicht existieren
Sanft umarmt mich der Tod, ich werde nun Abschied nehmen

Der letzte Abschnitt Liedes bringt einen musikalischen Schnitt: Es wirkt wie ein verzweifelter und überraschend kraftvoller Aufschrei, eine Kraft, die der Depression sonst fern ist. In Anbetracht der Hölle, die erlebt wurde, kann diese Stärke jedoch nur noch genutzt werden, um dem Willen zum Tod nachzugehen.

Wenn die Depression ein Fehlen jedes Eros ist, dann kann die Befreiung nur im Finden einer neuen Ausrichtung liegen, einer Sonne, der man sich staunend zuwenden kann, da man sie als größer als sich selbst und damit als erstrebenswert erkennt: „Der Eros besiegt die Depression“, indem er das in sich selbst feststeckende Subjekt aus sich herausreißt, hin zum Objekt seiner Liebe. Mit den Worten von Byung-Chul Han:

„Das depressive […] Subjekt versinkt und ertrinkt in sich selbst. Der Eros macht dagegen eine Erfahrung des Anderen in seiner Andersheit möglich, die den Einen aus seiner narzisstischen Hölle herausführt.“2

„Das narzisstisch-depressive Subjekt ist erschöpft und zermürbt von sich selbst. Es ist weltlos und verlassen vom Anderen. Eros und Depression sind einander entgegengesetzt. Der Eros reißt das Subjekt aus sich heraus auf den Anderen hin.“3

Immer wieder – einem Mantra gleich – spricht Han von diesem „Anderen“. Was aber kann dieses „Andere“ heute sein, das das depressive Subjekt befreit? Mit dem Tod der Metaphysik („Gott ist tot“) fehlt es heute weitestgehend an sinngebenden Quellen, die größer sind als ein Mensch… Die Metaphysik einer Umarmung erscheint da nur als ein kleiner Tropfen Erlösung in einem durch Sinnleere schon ziemlich löchrigem Fass.

Phil Eidos


1Die Benennung als untot stammt – wie viele dieser Gedanken – von Byung-Chul Han, vgl. Han, Byung-Chul: Agonie des Eros. Berlin: Matthes & Seitz, 2012., S. 37
2Han, Byung-Chul: Agonie des Eros. Berlin: Matthes & Seitz, 2012., S. 7 f.
3Ebd., S. 7

Aphorismus: Die Metaphysik der Umarmung

Gustav Klimt: "Die Umarmung"
Gustav Klimt: „Die Umarmung“

Die Umarmung ist eines der größten Zeichen der schenkenden Liebe und kann eine größere und heilsamere Wirkung haben, als jeder andere noch viel intimere Kontakt zu einer Person.

Das liegt an der Einheit, die sie wiederherzustellen scheint. Erich Fromm beschreibt die Ausgangslage des Menschen auf dieser Welt als einen Zustand der Getrenntheit, verjagt aus dem Paradies einer glückseligen Einheit:

 „Dieses Bewußtsein seines gesonderten Daseins, das Bewußtsein seiner kurzen Lebensspanne und der Tatsache, daß er ohne seinen Willen geboren ist und gegen seinen Willen sterben wird, daß er vor jenen sterben wird, die er liebt, oder daß sie vor ihm sterben werden, das Bewußtsein seiner Einsamkeit und Getrenntheit, seiner Hilflosigkeit gegenüber den Kräften der Natur und der Gesellschaft – das alles läßt seine besondere und abgetrennte Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis werden. Er würde wahnsinnig werden, könnte er sich nicht selbst aus seinem Gefängnis befreien und es sprengen, könnte er sich nicht in dieser oder jener Form mit Menschen, mit der Umwelt vereinen.“1

Die Umarmung scheint diesen verlorenen Zustand für einen kurzen Moment aufzuheben, scheint die erste und letzte Heimat kurz zurückzugeben, wenn man die Augen schließt und sich vollständig auf sie einlässt.

Unsere Zeit ist arm an Metaphysik und damit zunehmend der Vorstellung entledigt, dass wir vollständige Verwirklichung, vollständige Einheit, finden können.

Auch wenn die gefühlte Einheit einer Umarmung nur eine kleine Illusion dieser verlorenen Einheit ist, sollten wir nicht aufhören, dieses kleine Geschenk zu verteilen. Sei es nur, um den Menschen in Erinnerung zu rufen, dass es so ein Paradies gibt.

Phil Eidos


1 Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. Frankfurt a.M. [u.a.]: Ullstein, 1976

War Sokrates ein Yogi?

Heute mal einige sehr abstrakte, sehr metaphysische Gedanken – mal dem Spirituellen etwas freien Lauf lassen 🙂

Eine der größten Fragen, die mich philosophie-historisch beschäftigt ist diejenige, ob sich eine Einheit zwischen der antiken (westlichen) Philosophie Platons und der indischen Philosophie des Yoga herstellen lässt. Beide Wege sprechen meine Intuition an…

Der Yogi als der gerechte Mensch

Sokrates‘ Leben zeigt, wie die Glückseligkeit dadurch zu erreichen werden kann, dass der Mensch alle seine Seelenteile in Einklang bringt: Alle Wünsche und sich widersprechenden Bestrebungen müssen in Harmonie zueinander gebracht werden, was nur gelingen kann, wenn die erkennende Vernunft herrscht.

Die drei Seelenteile im gerechten Staat/Menschen
Die drei Seelenteile im gerechten Staat/Menschen

Die Vernunft (1. Seelenteil) ist der erkennende Teil im Menschen, der das absolute Maß des Guten zu erkennen fähig ist. Gemäß dieses Maßstabs können alle anderen inneren Begehrungen (3. Seelenteil) angeleitet werden, wobei die Kraft des Willens (2. Seelenteil) der erkennenden Vernunft zu Seite steht.

Der so lebende Mensch hat den inneren Kampf überwunden und kann ein gutes Leben führen. Er ist der „gerechte Mensch“, weil er gerecht zu sich selbst ist, indem kein Teil des selbst verleugnet oder versklavt wird – der Mensch lebt in innerer Freundschaft mit sich selbst.

Ein Mensch, der passiv lebt und unreflektiert allen seinen Trieben folgt, wird zu einem getriebenen, nimmersatten Menschen: Sei es das Streben nach Macht über andere, nach weltlichem Reichtum, nach sexueller Befriedigung. Alle diese Dinge – sobald sie erfüllt sind – schreien nach mehr. So wird man zum Menschen der Pleonexie, des „Mehrhabenwollens“. Eine Existenz, die entweder zu einer verzweifelten Zermürbtheit führt, wenn jedes Erreichen einer neuen Stufe des Besitzes von Macht, Reichtum, sexueller Befriedigung etc. mich ewig-dürstend zurücklässt, oder zur Depression, wenn ich auf die Unmöglichkeit gestoßen werde, zu erreichen, was mir mein Gott war – das Scheitern also der äußeren Ziele. Der so lebende Mensch ist der ungerechte Mensch, da er nach etwas strebt, was nicht „gut“ für ihn ist.

Mensch, regiert von der unterscheidungsfähigen Seele
Mensch, regiert von der unterscheidungsfähigen Seele

Soviel zu Platon, was aber bedeutet „Yoga“? Yoga heißt „Einheit“. Einheit von was? Wie bei Platon: Einheit aller sich widerstreitender Kräfte im Menschen; auch hier steht die richtige Lebensführung und das Streben nach der Verwirklichung der eigenen Natur im Vordergrund.

Besonders faszinierend ist, dass der indische Philosoph Mukunda Lal Ghosh (Yogananda) ebenfalls die Metapher eines Staates mit einem Herrschaftssytem nutzt, um den Zustand der Verwirklichung des Menschen darzustellen.

Heute wird die körperliche Komponente des Yoga überhöht: man praktiziert „Power-Yoga“, „Bussiness-Yoga“, „Fittness-Yoga“ etc… Yoga wird zu einem „Lifestyle“, der mit seiner Stressreduktion ein besseres Funktionieren im Job oder eine Steigerung der Gesundheit zum Ziel hat.

In der ursprünglichen Idee des (körperlichen) Yoga war aber nicht die Gesundheit das Ziel, oder das Funktionieren im Job. Vielmehr war dies nur die Vorbereitung und die Grundlage für eine geistige/seelische Entwicklung, die in der Meditation vorangetrieben werden soll – ein kranker Körper ist keine gute Grundlage dafür. Der Körper ist damit aber stets ein Mittel, kein Zweck.

Erleuchtung durch die Überwindung des Dualismus

Die Gleichnisse Platons (Sonnengleichnis, Liniengleichnis, Höhlengleichnis) zeigen den Erkenntnisweg, den der Philosoph zurückzulegen hat, hin zur höchsten Erkenntnis: der Idee des Guten.

Die Yogaphilosophie spricht von einem Dualismus, in welchem sich der Mensch befindet, einer Täuschung seines Bewusstseins (Sanskrit: माया māyā = Täuschung/Illusion). Es ist die Täuschung darüber, dass wir ein begrenztes Wesen sind, das leidet. Diese Erfahrung lässt uns die Welt einteilen in Gut und Böse, in Freude und Leiden. Die angestrebte „Erleuchtung“ bedeutet, dass man diese dualistische Einteilung der Welt erkenntnismäßig überwindet: man erkennt, dass das Gute das einzige Prinzip der Welt ist. Das Leiden, das Schlechte, das Böse in der Welt liegt ihr nicht schon zugrunde, sondern liegt nur in der unvollkommenen Erkenntnis der Welt, also in unserer Selbsttäuschung, die jedoch überwindbar ist – durch Meditation. Überwindet man die Täuschung, überwindet man auch jedes Leiden: Körper, Geist, Psyche, Seele etc. können noch so starke äußere Peinigung erfahren, der bewusste Yogi wird es spüren, ohne darunter zu leiden.

Wie beschreibt Platon seine Erkenntnis des Guten? Im Symposion gibt Diotima, die Lehrerin des Sokrates, einen kleinen Einblick in diese Erfahrung: Der Suchende, der der letzten Erkenntnis nahe kommt wird…

„…plötzlich ein Schönes von wunderbarer Art erblicken, eben jenes, Sokrates, dessentwegen alle früheren Bemühungen unternommen wurden, welches zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht, weder zunimmt noch abnimmt, ferner auch nicht auf der einen Seite schön, auf der anderen hässlich ist, und nicht bald schön, bald wieder nicht, auch nicht in dieser Beziehung schön, in jener hässlich, noch auch hier schön, dort hässlich, so dass es für die einen schön, für die anderen aber hässlich wäre. Auch wird sich ihm dies Schöne nicht als ein Gesicht zeigen oder als Hände oder als irgendetwas anderes, woran der Körper Anteil hat, noch auch als irgendeine Rede oder Wissenschaft und nicht als etwas, das an irgendeinem anderen ist, in einem Lebewesen oder auf der Erde oder am Himmel oder sonst an irgend etwas anderem, sondern an sich und für sich und in sich ewig in einer Gestalt.“

— Platon: Symposion, Rede der Diotima (210e)

In dem Zitat wird ein Gedanke immer wieder wiederholt, stets in etwas verschiedener Form: der Gedanke, dass die dualistische Sichtweise der Welt überwunden werden kann, indem man ein Schönes erblickt, das keine Kehrseite bereithält. Ein Absolutes, wie auch die Einheit des Yoga.

Nicht-intellektualistischer Erkenntnisweg

Bei alledem geht Sokrates/Platon einen selbst für die heutige westliche Philosophie sehr nicht-intellektuellen Erkenntnisweg: Erkenntnis kann nicht auswendig gelernt werden, sie ist kein einfaches Wissen, das man studieren kann, keine Lehre, die man einfach nachahmen kann.

Hier tun sich mir aber die größten Zweifel auf, was die Gemeinsamkeit der Yoga-Philosophie und der platonischen Philosophie angeht. Zwar ist Platon kein Intellektualist und die letzte Erkenntnis beruht nicht auf Lehre und Sprache, dennoch wird der Dialog, die Sprache, die Logik aber als Mittel genutzt, um zur nicht-sprachlichen Erkenntnis zu gelangen.

Die Methode des Yoga ist dagegen eine der unmittelbar schauenden Erfahrung durch den kontemplativen Zustand der Meditation. Bestimmte Techniken (die selbstverständlich auch auf einer Logik basieren müssen) können durch längere Praxis den Geist verändern, das Bewusstsein in der Welt verändern, so den Dualismus überwinden und zur Erkenntnis der Einheit, des Absoluten gelangen. Zwar wird das Studium von Schriften nahegelegt und auch in der Mathematik hat die indische Kultur beeindruckendes geleistet, dennoch ist der Schwerpunkt verschieden.

Ich bin unsicher, ob der Yoga-Weg aus der platonischen Perspektive als fehlgeleitete Mystik zu betrachten wäre, oder ob er sich nur graduell unterscheidet.

Der Anfang: Erfahrung des Mangels

Was ist der Anfang allen Suchens in beiden Philosophien? Es ist die Erkenntnis, dass etwas fehlt. Ich suche erst, wenn ich spüre, dass es mir an etwas mangelt. Der gefährlichste Zustand ist wohl der, bei dem der Mensch einem falschen Ziel so überzeugt nachläuft, dass das Bewusstsein für die Falschheit erst kommt, wenn er mit vollem Tempo gegen die Wand läuft. Dies äußert sich oftmals in allen Formen von Lebenskrisen, die heute omnipräsent sind: Depression, Burn-Out (wie oben bereits beschrieben)…

Yogananda, als Verterter der Yoga-Philosophie, schreibt dazu:

„Die meisten Menschen ahnen gar nicht, welche Folgen sich ergeben, wenn sie unter dem Einfluss schlechter Gewohnheiten handeln – bis sie dann plötzlich unter unerträglichen körperlichen Schmerzen oder herzzerbrechendem Kummer leiden. Schmerz und Leid zwingen den Menschen – leider viel zu spät – dazu, nach der Ursache seiner gegenwärtigen Lage zu forschen.“

— Yogananda: Die Bhagavad Gita (Kommentar), S. 37

Selbst Nietzsche, den man in solch metaphysischen Gefilden kaum erwarten würde, drückt mit seiner gewohnt heftigen Sprache immer wieder den Gedanken aus, dass die Erkenntnis des eigenen Mangels Voraussetzung für jede Weiterentwicklung ist:

„Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.“

— Nietzsche: Zarathustra, Vorrede, 5

Die Selbstverachtung heißt hier, den Ist-Zustand noch nicht als den letzten und höchsten zu begreifen, wenn er es nicht tatsächlich ist. Der letzte Mensch ist der, der in der Mittelmäßigkeit verharrt, bis ihm der Stillstand erstickt.

Wir sollten wohl nicht erst nach dem wahrhaft gutem Leben zu suchen beginnen, wenn wir zerbrochen am Boden liegen, sondern –  durch stetige Reflexion – so früh wie möglich und mit den besten Startbedingungen auf die Suche gehen.

Phil Eidos

Reflexionen zum Gemeinplatz: Es gibt keine absoluten Werte, aber seid „menschlich“!

Die Abbildung dieses Plakates kursiert durch das Internet1 und bringt mich zum nachdenken. Was will es sagen? Welche Idee steckt dahinter? Welche Philosophie?Plakat_einfach mensch

Offenbar geht es um die Abschaffung gewisser Konzepte und Kategorien, die nach wie vor zu tief in den Köpfen der Menschen stecken. Es ist gewissermaßen die Weiterführung der Aufklärung, die von Aberglauben und festgefahrenen Schubladen befreien will.

Es tönt wie ein Aufruf: Menschen, hört endlich auf, in diesen alten Kategorien zu denken, in die Ihr Euch engstirnig zurückzieht, weil sie Euch Sicherheit geben, weil sie Eure Identität ausmachen. Befreit Euch davon: Hört auf, andere nach Geschlecht, Religion, Rasse oder Herkunft zu beurteilen.“ Ganz nach dem Klassiker:

„Imagine there’s no countries

It isn’t hard to do

Nothing to kill or die for

And no religion too.“ – John Lennon

Wenn wir erstmal alle diese Kategorien aufgeben, werden wir in Wohlstand und Frieden leben („And the world will live as one“).

Nur eines soll nicht abgeschafft werden: Die Menschlichkeit (einfach Mensch). Dieser gemeinsame Nenner soll beibehalten werden. Er wird meistens mit den Menschenrechten“ oder der Würde des Menschen“ konkretisiert. Dies sei der höchste Wert, der allen zukommt und damit niemanden diskriminiert.

Die Frage, die ich mir nun stelle: Wie kommen wir überhaupt zu diesem höchsten Wert? Worauf basiert seine Wertigkeit? Sicher nicht auf Wahrheit, diese wurde ja gerade explizit abgeschafft. Auch kann es kein höchstes Gut“ sein, wenn Gut und Böse nicht mehr existieren. Was bleibt also? Offenbar kann Menschenwürde nur noch eine Übereinkunft sein, ein menschengemachtes Konstrukt. Und ihre Vertreter sind nur noch Inhaber einer Meinung, einer Meinung unter vielen. Was macht nun diese Meinung aus, weswegen sie – anders als die aufgezählten – nicht abgeschafft werden soll? Soll sie doch einen höheren Wert haben, als die anderen? Wie kann er legitimiert werden?

Ich bin mir unsicher, was diese geläufige Abschaffung aller Kategorien angeht. Sicher gibt es viele Schubladen und Denkmuster, bei denen es nicht schadet, wenn sie überwunden werden und auch ich stimme da bei vielen der auf dem Bild gezeigten Kategorien intuitiv mit ein. Jedoch frage ich mich, was die Konsequenzen sind, wenn man sie alle abschafft. Tut man dem einzelnen Menschen recht, wenn man ihn gleich wie alle anderen behandelt, wenn Unterschiede unbeachtet bleiben? Wie verträgt sich das überhaupt mit dem allgemeinen Schrei nach Individualität, der meistens aus den gleichen Mündern nur einen Atemzug später zu hören ist?

Was passiert, wenn keine Wahrheit mehr existiert? Wenn nichts wahr ist, ist doch offenbar alles erlaubt2, bzw. nur durch andere Menschen verboten, nicht aber, durch übergeordnete Werte. Dann dürfte auch die Menschlichkeit“ keinen eigenen, höchsten Wert darstellen.

Vielleicht lohnt es sich, nachzudenken, wie ursprünglich die Idee der Menschenwürde aufgekommen ist. Der Urheber dieses sehr relativistisch klingenden Plakates würde dann vielleicht feststellen, dass er mit der Menschlichkeit“ einen Wert vertritt, den er mit seiner relativistischen Grundlage eigentlich nicht begründen kann.3

Mir ist bewusst, dass diese Abbildung nicht im Sinn hat, eine philosophisch-ethische Abhandlung zu ersetzen. Sie soll bestimmte Emotionen anregen und bestimmte Gedanken der Toleranz verstärken. Jedoch scheint es mir notwendig, bei diesen Themen nicht im vorbewussten Stadium zu verbleiben. Es ist stets notwendig, die Gedanken zu Ende zu denken. Wenn sie widersprüchlich sind, dann sind auch meine Handlungen, die daraus folgen im Widerspruch.


2 Anlehnung an den Titel eines Seminars, das Christina Kast (Uni Passau) abgehalten hat
3 Dieser Gedanke wurde prominent von Böckenförde vertreten, wenn ich mich recht entsinne